7ro
7ro

Mein Universum 7 rechts oben

 

So, jetzt setze ich mich erst mal gescheit zum Tisch, um den soeben entstandenen Gedankengang „liegt in meinem schmerzenden Zahn 7 rechts oben das Universum meines physischen und psychischen Gedankendaseins?“ exaktest niederzuschreiben.

 

Sie müssen wissen, ich habe derzeit Zahnschmerzen und diese gehen aus vom Zahn 7 rechts oben. Ich werde diesen, der einfacheren Schreibweise in weiterer Folge kurz 7ro nennen. Dieser, eben 7ro, wurde bereits vorige Woche, unter äußerster Anspannung meinerseits, aber unter Einwirkung von einigen Hektolitern Nervenbetäubungssubstrates zum Einschlafen gebracht und mit einem überdimensionalen Bohrgerät, so erschien es mir zumindest aus dem Blickwinkel links betrachtend, aufgebohrt. Vielleicht dürfte diese Beobachtung, aufgrund meines dilettierten Zustandes etwas überzeichnet sein, aber der Bohrer hatte schon einen Kopfumfang von so ca. 2 bis 3 Zentimeter gehabt.

 

Ich muss festhalten und das mache ich nun sehr gerne, dass diese Tiefenbohrung unter der freundlichsten, zuvorkommendsten und äußerst sensiblen und sanften Vorgehensweise zweier Akteurinnen, die eine Frau Doktor, die andere deren Assistentin durchgeführt wurde. Neben dem schon als streichelnden Abtragen des deformierten Inlays zu bezeichnenden Aufbohrens von 7ro durch Frau Doktor (es war nachträglich zu vergleichen mit der sanften Berührung einer Feder auf der Wange), zeigte die Assistentin fürsorglichstes Mitleidsverhalten, indem sie die schwallenden Angstschweiss-perlenströme, die aus meiner Stirn wie die Fluten eines reißenden Hochgebirgsflusses im Frühjahr herausquollen, mit Papiertüchern aufzufangen versuchte. Sie dürfen mir glauben, es waren mindestens zwei große Rollen an Wegwischtüchern, die meine gewasserte Angst aufsaugten. Die Assistentin entsorgte diese dabei laufend in dem Mülleimer ihrer rechts. Nachdem die Behandlung, ich schätze diese dauerte so an die 4 bis 5 Stunden abgeschlossen war und ich unter wankendem, beinweichen Fortbewegens den Behandlungsraum verlies, wurde meine Aufmerksamkeit mit Schaudern auf den Mülleimer gelenkt. Sie werden es nicht glauben, aber er zitterte, ja er bebte regelrecht. Das war die in den Papiertüchern aufgesaugte Angst, die sich nun auf den armen Mülleimer übertrug. Der Deckel bibberte gleichsam des aufeinander klappenden Gebisses eines Kleinkindes, das das erste Mal den bösen Zauberer Tintifax im Kasperl begegnet.

 

Nun kommenden Dienstag, denn da findet der Folgetermin statt, wird sich zeigen, was mit 7ro geschehen soll. Denn, sollte sich dieser nicht beruhigen, die Tiefenbohrung wurde zunächst mit einer provisorischen Füllung gefüllt, so wird wahrscheinlich eine Wurzelbehandlung durchgeführt werden müssen.

 

Aber was, wenn dieser Zahn, der quasi in mir ein Paralleluniversum der Gedankenwelt aufstieß, mein seit Wochen andauerndes physisches und psychisches Dahinvegetieren leitet, mein Selbst bestimmt, er 7ro, der mittlerweile mein Lebensinhalt wurde, was wird sein, wenn er gezogen wird?

 

Denn seit Wochen leitete jede angehende und wahrzunehmende Gefühlsregung von 7ro meine ganze Aufmerksamkeit sofort auf ihn. Am Anfang war es noch eher gemächlich, aber die letzten Tage vor meinem Besuch beim Zahnarzt, da irritierte mich sein Mitteilungsbedürfnis schon ein wenig. Diese war bereits so schmerzgeladen, dass ich schließlich die einleitend bereits genannte Unterstützung medizinischer fachkundiger Autorität aufsuchte. Es war auch hinsichtlich des armen 7ro, denn irgendwas wollte er mir damit wohl mitteilen und er tat mir mittlerweile schon sehr leid.

 

Aber 7ro steuert nun einmal mein Denken, meine Gefühlswelt, meine Vorstellungen. Und aus einem noch so kleinen Schmerzimpuls entsteht eine Verkettung hochkomplexer, innerlich aufs äußerste aufwühlender Folgegedanken, die wiederum geeignet erscheinen den ursprünglichen Schmerzimpuls zu verstärken. Ich möchte Ihnen nun diese Komplexität anhand des folgenden Beispiels ein wenig näher darlegen. Die einzelnen Folgegedanken sind jeweils durch einen Querstrich getrennt.

 

Schmerz / AUA (ich meine hier nicht die Fluglinie, sondern AUA steht für den Ausdruck der Schmerzempfindung), AUA, da hats was / du solltest zum Doktor gehen (natürlich geht Mann erst dann, wenn der Schmerzpegel ein dementsprechendes Intensionsvolumen erreicht hat) / ahhhh …. wird vielleicht schon eine Wurzeleiterung sein / ahhhh …... warum bist nicht gleich gegangen, vielleicht ist schon der Kiefer angegriffen / folgenschweres Gedankenszenario „Kiefereiterung“ / die werden mich dann gleich in eine Klinik einweisen, da eine solche Behandlung in der Ordination nicht mehr durchgeführt werden kann / ich sehe mich schon in der Klinik, umfassende Röntgen werden gemacht, Computer -Tomographie, Magnetresonanz, usw. / ich erhalte das Ergebnis, gleich mehrere Ärzte stehen wie eine Kondolenzabteilung um michherum, sie schauen allesamt betreten auf den Boden; der Primar persönlich teilt mir mit, dass sich die Kiefereiterung bereits durch die Kieferhöhlen in die Stirnhöhlen durchgefressen hat und bei dem bereits eingesetzten weiteren Durchbruch droht diese direkt in das Gehirn zu gelangen / es muss notoperiert werden; aber auch nicht hier, sondern in einer Spezialklinik in Amerika; denn dort gibt es die richtigen Spezialisten für diese Behandlung; es ist schon alles in die Wege geleitet / ich werde umgehend mit einem Rettungsflugzeug nach Amerika in die besagte Klinik gebracht; die dortigen Spezialisten, hauptsächlich Uni Professoren, erwarten schon meine Ankunft; da der Eingriff weltweit erst zwei Mal durchgeführt wurde, erfolgt eine sofortige Benachrichtigung über den bevorstehenden Eingriff an die diversesten Spezialklinken; es wird darauf hingewiesen, dass der Eingriff live über das Internet mitverfolgt werden kann / Professoren von Kliniken aus Frankreich, Russland, Australien, Brasilien, England, Japan und Kanada sagen Unterstützung per Videokonferenz zu / nach mehrmaliger Aufforderung meinerseits teilt mir einer der Spezialisten mit, wie die Operation durchgeführt wird; zuerst werden Haut und Muskeln der gesamten rechten Gesichtshälfte abgetragen; sodann werden die Knochen an den dementsprechenden Stellen fein säuberlich entfernt, um den gesamten Verlauf der vereiterten Herdstraße freizulegen; das heißt, von 7ro bis in mein Gehirn wird alles freigelegt; unter zu Hilfenahme diverser mikroskopischer Operationsmedien und diverser computergesteuerter Präzisionsroboter soll sodann das zerstörte Gewebe abgetragen werden; Knochen, Muskeln und Haut werden abschließend wieder fein säuberlich eingesetzt / nächster Horrorgedanke; aber was, wenn zur gleichen Zeit eine ähnliche Operation bei einer weiblichen Person durchgeführt wird und mir danach, aufgrund einer Verwechslung die Knochen, die Muskeln und die Haut eben dieser weiblichen Person eingesetzt werden; herrjeh, ich bin Bartträger; weiblichen Personen wächst zumeist kein Bart/ AHHHHHH, übelste Gedanken der Verspottung strömen durch meinen Kopf, wenn ich mich dann so auf der Straße blicken lasse/ aber Moment, dann muss ich mich halt nur jeden Tag rasieren; ist ja nur die eine Hälfte, und dies ist dann sogar neben der Zeit eine Kostenersparnis; und schon bin ich etwas beruhigter / Moment, wenn nun die weibliche Person schon etwas älter ist und altersbedingt eine eher gefaltene Haut hat? wie schaut das dann aus; die eine Gesichtshälfte straff, die andere gefalten und womöglich gerunzelt/ und schon wieder entsteht in mir der gestresste Gedanke, was tun; da bleibt mir dann nur mehr ein guter Schönheitschirurg, der sich auf das Lifting rechter Gesichtshälften spezialisiert hat oder eine gute Ausrede über/ kurzes Nachdenken, ja so in etwa; wenn mich jemand danach fragt warum ich so einseitig gefalten bin, dann antworte ich, dass mich meine Mutter als Kleinkind im Kinderwagen am Nachmittag auf unserem Bauernhof immer zu nahe zu den Kühen gestellt hat. Die konnten es nicht lassen mich jeden Tag ständig auf der rechten Gesichtshälfte mit ihren rauen Zungen abzuschlecken; und das führte eben zu dieser einseitig runzeligen Hautausprägung;

 

So und jetzt frage ich Sie, was passiert mit mir, wenn mein 7ro, der imstande ist ein solches Gedankenuniversum zu erzeugen, gerissen wird? Plötzlich, Schmerz durchdringt meinen Zahn 6 links unten. Ich muss zugeben, diesen Bereich spüre ich auch schon seit geraumer Zeit. Und ich erkenne, nein es ist wie eine höhere Eingebung, es fällt mir wie Schuppen von den Augen oder wie Milchzähne aus dem Mund eines Kindes, wie der Zahnarzt zu sagen pfelgt, es gibt nicht nur ein Gedankenuniversum , dass, wie bei mir, nur von 7ro ausgeht. Nein es gibt insgesamt 32 von denen. Eigentlich sind es bei mir nur mehr 31, denn eines hat mich bereits vor rund 20 Jahren verlassen. Diese Angst ist also unbegründet und ich fühle mich seit langem wieder einmal richtig beruhigt. Beruhigt genug um mit frohen, wackeren und mutigen Schritten nächsten Dienstag zu den netten beiden Damen zu marschieren, die meinen 7ro weiter behandeln werden. Ob ich Ihnen von meinem 6 links unten erzählen soll?

 

Ja stimmt, sie fragen sich nun sicher, ich kann ihre Gedanken deutlich erkennen, welches Universum bleibt nun noch einem bereits zahnlosen Menschen? Übernimmt hier quasi das dritte Gebiss diese Funktion? Ich denke und ich greife hier ausschließlich auf realitätsnahe und verifizierte Beobachtungen zurück, dass diese Funktion letztlich wieder von den Zehen übernommen wird. Denn Babys nuckeln, solange sie zahnlos sind, doch andauernd am liebsten an ihren Zehen herum. Dies endet aber, sobald die ersten Zähne erscheinen.

 

 

 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diese Geschichte liegen beim Autor Anton Six.
All rights of this story belong to its author Anton Six.